Der steinige Weg zurück zur Normalität

In ihrer gestern veröffentlichten, dritten Ad-hoc-Stellungnahme mit dem Titel „Coronavirus-Pandemie – Die Krise nachhaltig überwinden“ empfiehlt die Leopoldina die möglichst schnelle, schrittweise Öffnung der Bildungseinrichtungen. „Im Bereich der Kindergärten und Kindertagesstätten sollte (…) ein Regelbetrieb mit reduzierten Gruppengrößen (max. 5 Kinder pro Raum) am Übergang zur Grundschule (5-6-Jährige) stattfinden. Es sollten alle Anstrengungen – auch in den Sommerferien – unternommen werden, um diese Kinder so gut wie möglich auf den Übergang in die weiterführende Schule vorzubereiten. Da kleinere Kinder sich nicht an die Distanzregeln und Schutzmaßnahmen halten, gleichzeitig aber die Infektion weitergeben können, sollten die Kitas für die jüngeren Jahrgänge bis zu den Sommerferien weiterhin im Notbetrieb bleiben. Bei den Horten gilt ebenfalls die Aufrechterhaltung der Notfallbetreuung. Dies setzt voraus, dass berufstätige Eltern weiterhin durch eine sehr flexible Handhabung von Arbeitszeiten und -orten sowie finanziell unterstützt werden“ (Leopoldina, S. 13).

Im folgenden haben Jens Kluge, Sprecher des Graswurzelbündnisses „Die bessere Kita“, und Christian Wobst, Vorsitzender des Stadtelternrates Limbach-Oberfrohna, ihre Gedanken zur Stellungnahme der Leopoldina zusammengefasst. Darin eingeflossen sind auch die zahlreichen Rückmeldungen zum über Ostern gestarteten Aufruf. Die beiden Autoren sehen dies als Diskussionsbeitrag und freuen sich auf Anmerkungen in den sozialen Medien beziehungsweise per Mail an buero@die-bessere-kita.de.

Schutz der Risikogruppen hat oberste Priorität
In der Praxis werden die Empfehlungen der Nationalen Akademie der Wissenschaften sehr kontrovers diskutiert. Bei allen Überlegungen gilt es zu beachten, dass Erzieherinnen und Erzieher, die zu den noch verbindlich zu definierenden Risikogruppen gehören, unbedingt geschützt werden müssen. Die Träger sollten dazu die entsprechenden Maßnahmen ergreifen und ermitteln, welche Erzieherinnen und Erzieher zu den Risikogruppen gehören. Von der Politik erwarten wir, dass diese Lösungen findet, damit Erzieherinnen und Erzieher, die ihrer Arbeit direkt vor Ort in den Kitas nicht mehr nachgehen können, weil sie zu einer Risikogruppe gehören, dennoch weiter ihr Gehalt erhalten.

Immunisierte Erzieherinnen und Erzieher sollten intensiv eingesetzt werden
Auf der anderen Seite gibt es mit Sicherheit bereits jetzt einige Erzieherinnen und Erzieher, die die Krankheit wissend oder unwissentlich bereits durchgemacht haben und damit – nach dem aktuellen Stand der Forschung – jetzt zumindest eine Zeit lang immun sind. Diese Erzieherinnen und Erzieher sollten über die bisher vereinbarte Arbeitszeit hinaus beschäftigt und für diesen Einsatz mit einer Zulage honoriert werden.

Reinigung und Zwischendesinfektion müssen auch während der Öffnungszeiten möglich sein
Vor Corona wurden die Kitas in der Regel gereinigt, wenn Kinder und Pädagogen die Räume verlassen haben. Nun ist es bedeutsam, dass das regelmäßige Reinigen der WCs und der sonstigen laufend genutzten Gegenstände wie zum Beispiel Spielsachen, Geländer, Handläufe, Türklinken auch innerhalb der Betreuungszeiten geschieht und dafür entsprechendes Personal vorgehalten wird. Die zuständigen Behörden sollten gemeinsam mit den Trägern dafür sorgen, dass ausreichend Seife, Desinfektionsmittel und Mundschutz vorhanden sind.

Koordinierende und informierende Stabsstelle im Kultusministerium notwendig
Wünschenswert wäre es, wenn es im Sächsischen Kultusministerium eine dem Kultusminister direkt unterstellte Stabsstelle – eventuell sogar getrennt für die Bereiche Kita und Schule – für die Sammlung aller Informationen und die Koordination aller Maßnahmen rund um die Corona-Pandemie geben würde.

Hilfen für benachteiligte Familien müssen intensiviert werden
Wenn es außerhalb des Vorschulbereiches bis zu den Sommerferien nur eine Notbetreuung geben wird, dann müssen wir uns darüber bewusst sein, dass dies ohne entsprechende Gegenmaßnahmen insbesondere bei sozial schwachen Familien zu einer größeren Bildungslücke führen wird, die sich vermutlich in Zukunft nur schwer schließen lassen wird. Insbesondere in der frühkindlichen Bildung legen die Erzieherinnen und Erzieher wichtige Grundlagen. Es darf bezweifelt werden, dass Familien insbesondere mit schwierigerem sozialen Hintergrund, ohne Hilfe von außen und allein auf sich gestellt dies entsprechend kompensieren können. Insbesondere Sprachauffälligkeiten – mit allen späteren Konsequenzen für den Erwerb von Lese- und Rechtschreibkenntnissen – dürften deutlich zunehmen. Die durch die Allgemeinverfügung allen Sachsen auferlegten Bewegungseinschränkungen sollten für Familien, deren Kinder ohnehin motorische Auffälligkeiten haben, keine willkommene Ausrede dafür sein, noch weniger die Wohnung zu verlassen. Hier braucht es dringend niederschwellige lokale Hilfen, um zu verhindern, dass durch diese Krise eine Generation Corona entsteht, die ein Leben lang von allen Möglichkeiten unsere modernen Lebens abgehängt sein wird.

Jedes Kind hat ein Recht auf eine zweite Eingewöhnung
Bei den Kindern, die im Vorschulbereich bald wieder in die Kita zurückkommen, ist ganz individuell zu prüfen, wie diese die letzten Wochen erlebt haben. Es muss für jedes Kind individuell ermittelt werden, in welchen Bereichen (sozial, motorisch, emotional, kognitiv, sprachlich) es Defizite gibt und welche Stärken das Kind in der Zwischenzeit entwickelt hat. Diese Überprüfung kann als zweite Eingewöhnung bezeichnet werden, auf die jedes Kind ein Recht hat. Dieses Recht auf eine zweite Eingewöhnung haben auch die Kinder, die zu einem späteren Zeitpunkt in den Regelbetrieb der Kita einsteigen. In jedem Fall kann die zweite Eingewöhnung nur schrittweise erfolgen.

Unterstützung im Umgang mit heterogenen Gruppen notwendig
Schon vor der Krise hatten es Kitas mit sehr heterogenen Gruppen zu tun. Diese Heterogenität wird jetzt deutlich zunehmen, weil es im häuslichen Bereich Kinder geben wird, die sehr gefördert und andere, die extrem vernachlässigt worden sind. Um das System damit nicht zu überlasten und alle Kinder bestmöglich zu fördern, brauchen die Erzieherinnen und Erzieher weitreichende fachliche Unterstützung durch deren Träger und die Wissenschaft.

Studien zu Auswirkungen auf Einzelkinder notwendig
Es ist noch nicht abzusehen, was diese Krise mit Einzelkindern macht, die von jeglichem Kontakt mit Gleichaltrigen abgeschnitten sind. Hier erwarten wir, dass die Universitäten mit Forschungsschwerpunkten im frühkindlichen Bereich kurzfristig belastbare Studien durchführen und Handlungsempfehlungen für die Praxis veröffentlichen.

Starker Rückhalt aus den Elternhäusern weiter notwendig
Es bleibt zu hoffen, dass die Erzieherinnen und Erzieher auch weiterhin die notwendige Unterstützung aus den Elternhäusern bekommen. Eventuell können Eltern, die aufgrund von Kurzarbeit ohnehin weniger arbeiten, vermehrt auch ihre Kinder zu Hause betreuen und damit dafür Sorgen, ein Teil des Drucks aus dem System zu nehmen. Seitens der Kita brauchen aber auch zu Hause betreuende Eltern Unterstützung, wobei in diesem Bereich sehr viel über Email, Telefon oder Elternbriefe realisiert werden kann. Sollte es in der Wirtschaft zu einer Staffelung von Arbeitszeiten kommen, d.h. Belegschaften werden geteilt und die Arbeit in kleineren Gruppen über einen längeren Arbeitstag gesteckt um Ansteckungsrisiken zu vermeiden, so könnten sich daraus auch für die Kitas Chancen (in Form einer sich automatisch über den Tag verteilenden Nachfrage nach Betreuungsleistungen durch die Eltern) als auch Herausforderungen (längerer Einsatz des wenigen, noch zur Verfügung stehenden Personals und damit drohende Überlastung) ergeben. Wir wollen diesen Punkt an dieser Stelle nur kurz anreißen. Die Überlegungen dazu müssten konkretisiert werden, wenn sich die Wirtschaft zu einer Staffelung der Arbeitszeiten entschließt.

Kranke Kinder gehören nicht in die Kita
Sowohl Kitaträger, Einrichtungen und Elternvertretungen sollten immer wieder kommunizieren, dass kranke Kinder nicht in die Einrichtungen gehören. Die Erfahrungen der vergangenen Jahre zeigen, dass die Regelungen des Infektionsschutzes von den Eltern immer wieder umgegangen worden sind. Bei allem Verständnis für die Gründe der Eltern – insbesondere auch was den Druck seitens der Arbeitgeber angeht – müssen wir alle darauf achten, dass kranke Kinder unbedingt zu Hause bleiben. Wir gehen davon aus, dass auch die Arbeitgeber im Interesse der gesunden Belegschaft nicht mehr erwarten, dass Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die ein krankes Kind zu Hause betreuen, auf Arbeit erscheinen. Arbeitgeber sollten solche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter offensiv nach Hause schicken und dies auch gegenüber den anderen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern kommunizieren. Wir hoffen, dass der Grundsatz „Wer krank ist oder ein krankes Kind zu Hause betreut, bleibt zu Hause, ohne dass ihm dadurch Nachteile entstehen“ diese Krise überdauert.

Eigenverantwortung der Kinder als Chance
Insgesamt stellen die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der Leopoldina in ihrer Ad-hoc-Stellungnahme auf ein eigenverantwortliches Handeln der Menschen ab. Im Kitabereich kann dieses eigenverantwortliche Handeln nicht automatisch von den Kindern erwartet werden, wobei die Krise gleichwohl die Chance bietet, den Kindern eigenverantwortliches Handeln ganz praktisch nahe zu bringen. In kleinen Gruppen und die entsprechenden Zeitressourcen vorausgesetzt, sollte dies realisierbar sein.

Flexibilität von Sozialpartnern notwendig
Seitens der Sozialpartner dürfen wir erwarten, dass in dieser besonderen Situation Regelungen zur Arbeitszeit im Sinne der Kinder möglichst flexibel betrachtet werden.

Mehr Informationen zur Zweckmäßigkeit von Schutzkleidung notwendig
Zur viel diskutierten Frage, inwieweit Schutzkleidung für Erzieherinnen und Erzieher notwendig ist, erwarten wir uns weiterführende Informationen der medizinischen Experten. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus dem frühkindlichen Bereich sollten kurzfristig zu der Frage Stellung nehmen, was eine Erzieherin beziehungsweise ein Erzieher bei den Kindern auslöst, wenn sie oder er eine Maske trägt. Da in anderen Ländern das Tragen von Masken schon länger praktiziert wird und weiter verbreitet ist, könnten die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler die entsprechenden fremdsprachigen Publikationen der interessierten deutschen Öffentlichkeit mit ihren Empfehlungen zur Verfügung stellen.

Editorischer Hinweis:
Die erste Version dieses Textes wurde am 14. März, 18.44 Uhr, unter diesem Link veröffentlicht. Aufgrund der dynamischen Lage werden wir diesen Text, unsere Forderungen, Empfehlungen und Gedanken regelmäßig anpassen und dies in einer Versionsgeschichte dokumentieren.